Schnee ist ein Erlebnisstoff – nicht nur für Kinder. Den aber soll es in unseren Breitengraden bald nicht mehr geben. „Es hat geschneit!“, ist ein Glückssatz und Anlass für Erlebniswünsche und philosophische Gedankenspiele. Diesen spürt der Autor durch Bild und Text noch einmal nach und trifft dabei auf sportliche Fakten und sprachliche Spielfreude.
Verlag: bei Schmitz, Berlin 2016
ISBN: 978-3-9816700-3-5
gebundenes Hardcover, 84 Seiten, farbige Abbildungen
Essays und Gedichte
Preis: € 17,90
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Zu seinem 80sten Geburtstag hat es Helmut Hartwig – nach vielen Jahrzehnten publizistischer und kuturpädagogischer Umtriebigkeit sowie der Lehre an der Universität der Künste Berlin – ordentlich schneien lassen; ganze achtzig Seiten lang.
Zunächst tritt der Schnee dem Leser als Wort entgegen, ebenso als Klang. Genauer: als Rhythmus einer Klangwiederholung. Schnee Schnee, so lautet der Titel, ergänzt durch den Satz: Nachruf auf eine Jahreszeit, die entschwindet. Hartwig nimmt die (deutsche) Sprache beim Wort und beim Klang und setzt sie vergnüglich experimentierend ins Bild. Das tut er für sich: … Und jetzt / Baut sich ein neues Glück auf / Es braucht den Schnee, um zu erscheinen – mit diesen Zeilen aus einem seiner Gedichte wird das Buch eröffnet. Und er tut es für den Leser. Ihm bietet er eine Slalomfahrt durch unterschiedliche Textsorten, Gedankenspiele und Bildwelten und demonstriert überraschende und höchst aufschlussreiche Betrachtungsweisen.
Schon der Titel Schnee Schnee löst ein Gedankentreiben und Bildgestöber aus. Man kann sich den Schneefall vorstellen, von dem die Rede ist, ebenso Das Wirbeln der Schneeflocken, deren Weiß sich ohne Schwarz nicht darstellen lässt. Alsbald wird der Leser durch eine Winterlandschaft an Kafkas Schloss herangeführt, bevor der Schnee schmutzig wird und auch noch als Matsch der Einbildungskraft Anstöße gibt. Ebenso entnimmt Hartwig der Bildenden Kunst, dem Film, dem Fernsehen und dem Wintersport Schneeproben, um sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren. Barocke Gedanken eines virtuellen Skifliegers nehmen den Leser mit auf den Flug über biographische Stationen hinweg, über Körpererfahrungen, Visionen und philosophische Kniffligkeiten. Hartwig verknüpft mit eleganten Schwüngen, was verbreitetes Denken in kleine Häppchen zerteilt und auseinanderhält. …Der Schnee vernäht die Entzweiung.
Bei Texten, eigenen Malereien, Collagen und fotografischen Ausrissen setzt Hartwig auf Zwischenräume und Leerstellen. Das Weiß des Papieres selbst wird zur Schneefläche. Jedes Umblättern eröffnet neue Winterlandschaften. Sie laden den Leser zum Mit- und Weiterdenken ein. Er wird dazu animiert, die Lücken mit eigenen Bildern zu füllen und Verbindungsmöglichkeiten durchzuspielen. Mal fährt sein Auge Schlitten, mal nimmt es die Skier, mal schweift es verträumt über das weiße Nichts, mal erschauert es vor Bedrohlichkeiten, welche nur durch aktives Dagegenhalten zu ertragen sind. Schamhaftes Weiß / Lange Stille im Schnee / Schnee ist immer alles, wo es ist. Solche und ähnliche Sätze – gleich einem Haiku – treiben wie Flocken über Die völlige Weißnes des Schnees und nehmen bisweilen Doppelseiten ein. Sie lassen – wie andere Passagen und Bilder auch – Nachbilder und Nachgedanken umeinanderwirbeln und verdichten sich zu einem poetischen Schneetreiben.
Für Leser ist die Lektüre Genuß und Ermutigung. Das Buch Schnee Schnee […] belebt, was eine bachelorisierte Wissenökonomie nicht bieten kann: Leidenschaft, Wahrnehmungsfreude, Denklust und Fantasie.
Ulrich Puritz